Vielleicht mußte so viel Zeit vergehen, bis dieses Buch geschrieben werden konnte (und von keinem noch so erfahrenen und phantasiebegabten Schriftsteller) - ein halbes Jahrhundert, seit Millionen Menschen den "WEG IN DIE DDR" fanden, zehn Jahre nach dem Ende ihrer Existenz. 55 Männer und Frauen sind es, die jetzt ihr Schweigen brechen und lapidar erzählen, wie sie damals ihren Platz und Lebenssinn in diesem Land fanden. Sie wurden nicht in diesen heute so verteufelten Arbeiter und Bauernstaat hineingeboren oder -gezwungen, sondern gehörten einer Generation an, die bei offener Grenze aus den unterschiedlichsten, oft erstaunlichsten Gründen für sich entschied, hier zu leben und zu bleiben.
Nicht wenige waren der Hölle des Krieges, den Bombardierungen, dem Flüchtlingselend oder der Gefangenschaft knapp entronnen: Soldaten, Volkssturmmänner, Hitlerjugendführer, Wehrmachtsoffiziere, U-Boot-Matrosen, Luftwaffenhelfer, Söhne und Töchter von Arbeitern, Bauern, biederen Bürgern oder Beamten, verfolgten Juden, von Kommunisten, Anarchisten, Sozialdemokraten und Nazis, junge Männer und Frauen, die noch bis in die Maitage 1945 hinein die entsetzlichsten Schrecken und Schändungen erlebten. Fast für alle galt, was einer der Chronisten in die Worte faßte: "Wenn du hier mit dem Leben davonkommen solltest, dann kann der tiefere Sinn deines weiteren Lebens nur darin bestehen, alles zu tun, um beizutragen, daß sich so etwas wie dieser wahnsinnige Krieg nie wiederholt." Und eine aus dem Exil in die DDR gekommene Jüdin zieht jetzt die Lebensbilanz: "Ich habe hier keine besonderen Leistungen vollbracht, sondern nur mit meinen Mitteln dazu beigetragen, die faschistischen Denkweisen aus den Köpfen einer Reihe von Menschen (ich weiß nicht wie vieler) zu vertreiben, ihnen zu helfen, die Welt mit offenen Augen zu sehen. Nein, ich habe keinen Grund, meinen Weg zu bereuen!"
Noch bei den abenteuerlichsten Schilderungen und Begebenheiten, die dieses vielstimmige Buch vereint, ergibt sich bei dieser "Spurensicherung" kein anderes Credo dieses Landes und ihrer Lebensläufe. Auch im Kritischen, im Übereifer und gegenüber mancher Borniertheit der folgenden Jahre, ließen viele, wie eine der Chronistinnen schreibt, nicht davon ab: "Natürlich erscheinen mir diese Jahre heute verklärt vom jugendlichen Elan, dem tiefen Lebensgefühl, das alles Künftige zu meistern glaubte. Diese Zeit ist überlagert von den Träumen für eine sozial gerechte Welt. Wir wußten ja nicht, wie schwierig der Weg dorthin sein würde und daß diese Träume vielleicht noch lange Utopien bleiben werden. Aber arm ist nicht der, dessen Träume nicht in Erfüllung gegangen sind, arm ist der, der niemals geträumt hat."
Eberhard Panitz